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Vorratsdatenspeicherung: 10 Mythen aus der Bundestagsdebatte und ihre Entlarvung

Deutscher Bundestag | Bild: CC-BY Tobias M. Eckrich

Beitrag erschienen auf der Bundes-Website.

Der Themenbeauftragte für Datenschutz der Piratenpartei und Schleswig-Holsteinische Landtagsabgeordnete Patrick Breyer entlarvt 10 Behauptungen in der Bundestagsdebatte um die Wiedereinführung einer verdachtslosen Vorratsspeicherung aller Kommunikationsdaten als Mythen und Augenwischerei:

1. Der CDU-Abgeordnete Strobl erklärte, alle SPD-Innenminister seien für die Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung.

Fakt ist: Schleswig-Holsteins Innenminister Studt (SPD) lehnt eine Rückkehr zur Vorratsdatenspeicherung als “hochproblematischen Eingriff in die Grundrechte” ab.

2. Herr Strobl erklärte, eine Vorratsdatenspeicherung würde für eine Vereinheitlichung der Speicherdauer sorgen, sodass die Kommunikationsdaten der Kunden aller Unternehmen nach einer bestimmten Frist einheitlich gelöscht würden.

Fakt ist: Eine Vorratsdatenspeicherung würde jeden Anbieter zur Einrichtung einer zusätzlichen Datenbank zwingen. An der unterschiedlichen Aufbewahrungsdauer von Kommunikationsdaten für betriebliche Zwecke – also an der bestehenden Speicherpraxis – würde sie nichts ändern. Ursache dafür ist ein ›Leitfaden für Speicherfristen‹ der Bundesnetzagentur. Bereits eine Änderung dieses Leitfadens könnte für eine einheitliche Datenlöschung mit Verbindungsende sorgen.

3. Der CDU-Abgeordnete Strobl betonte, die Vorratsdatenspeicherung betreffe nur Verbindungsdaten und keine Inhalte der Kommunikation.

Fakt ist: In vielen Fällen lässt sich der Kommunikationsinhalt anhand der Verbindungsdaten rekonstruieren, beispielsweise wenn eine Ehe- oder Drogenberatungsstelle angerufen oder aufgesucht wird. Das US-amerikanische Forschungszentrum MIT konnte anhand von Verbindungs- und Bewegungsdaten Freundschaften mit 90%iger Genauigkeit identifizieren und sogar zukünftige Zusammentreffen und Aufenthaltsorte mit derselben Genauigkeit vorhersagen. Internet-Verbindungsdaten sind der Schlüssel zur Identifizierung von Personen, die bestimmte Inhalte gelesen oder geschrieben haben.

4. Die CDU-Abgeordnete Winkelmeier-Becker erklärte, Vorratsdaten seien zur Aufklärung ungerechtfertigter Abmahnungen im Internet, von Identitätsdiebstählen, Enkeltricks und Missbrauchsdarstellungen erforderlich.

Fakt ist: Nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ging die Aufklärungsquote bei Internetdelikten sogar zurück. Nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts [1] ergeben sich aus Fällen von Enkeltricks oder Kinderpornografie »keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Schutzmöglichkeiten durch den Wegfall der Vorratsdatenspeicherung reduziert worden wären.« Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hat ergeben, dass die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung in keinem der 21 untersuchten EU-Mitgliedsstaaten zu signifikanten Änderungen der Aufklärungsquote geführt hat [2].

5. Der CSU-Abgeordnete Dr. Ullrich beklagte, niemand könne erklären, warum der Staat nicht auf Verbindungsdaten zugreifen könne, die zur Rechnungsstellung gespeichert werden.

Fakt ist: Ermittlungsbehörden haben schon heute Zugriff auf Kommunikationsdaten, die zur Rechnungsstellung gespeichert werden.

6. Dr. Ullrich (CSU) behauptete weiter, weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof hätten die Vorratsdatenspeicherung für gänzlich verfassungswidrig erklärt.

Fakt ist: Der Europäische Gerichtshof hat die Nichtigerklärung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung unter anderem damit begründet, dass die darin vorgesehene Kommunikationsdatensammlung »alle Personen [betreffe], die elektronische Kommunikationsdienste nutzen«, ohne dass »ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnte«. Eine Vorratsdatenspeicherung im Sinne einer unterschiedslosen Sammlung von Informationen über die Kommunikation jedes Bürgers ist nach diesem Maßstab grundrechtswidrig.

7. Der CDU-Abgeordnete Dr. Ostermann erklärte, vor dem Staat müssten die Bürger keine Angst haben.

Fakt ist: Eine Vorratsdatenspeicherung setzt vertraulichste Informationen über das Privatleben jedes Bürgers dem permanenten Risiko des falschen Verdachts, des Datenmissbrauchs durch Staatsbeamte oder Firmenmitarbeiter, des Datenverkaufs, Datenverlusts oder Datenklaus aus. In der Praxis kommt es immer wieder dazu, dass unschuldige Bürger infolge solcher Vorfälle Nachteile erleiden.[3] Das ständige Risiko von Nachteilen entfaltet eine enorme Abschreckungswirkung (‘chilling effect’) und vereitelt eine unbefangene Telefon- und Internetnutzung in sensiblen Situationen (z.B. anonyme Information von Journalisten über Missstände; psychologische, medizinische und juristische Beratung und Selbsthilfegruppen von Menschen in besonderen Situationen wie Notlagen und Krankheiten). Wenn Menschen nicht mehr ohne Furcht vor Nachteilen durch Anrufe oder im Internet Hilfe suchen können, verhindert dies eine sinnvolle Prävention und kann sogar Leib und Leben von Unbeteiligten gefährden.

8. Dr. Ostermann behauptete weiter, eine Vorratsdatenspeicherung sei in vielen Fällen das einzige Instrument, das einen Ermittlungserfolg verspreche.

Fakt ist: Weder Inkrafttreten noch Außerkrafttreten der 2008 bis 2010 in Deutschland praktizierten Vorratsdatenspeicherung hatte erkennbaren Einfluss auf die Zahl der registrierten schweren Straftaten oder ihre Aufklärungsquote. Das gilt auch für die anderen europäischen Staaten. Eine Vorratsdatenspeicherung schadet sogar der Strafverfolgung, weil sie den verstärkten Einsatz von Umgehungsmaßnahmen nach sich zieht, deren Anonymität selbst im Verdachtsfall nicht mehr aufgehoben werden kann.

9. Laut Dr. Ostermann könnten die meisten anderen Länder anhand von IP-Adressen bis zu 90% der Täter überführen, Deutschland regelmäßig nur 10 bis 20%.

Mangels Quellenangabe ist diese Darstellung nicht nachprüfbar.
Fakt ist: IP-Adressen führen auch mit Vorratsdatenspeicherung oft nicht zum Täter, sondern lediglich zu einem Anonymisierungsdienst, einem offenen Internetzugang, einem Internetcafé oder einer unregistrierten Prepaidkarte. Auch ohne IP-Adresse ist eine Aufklärung nicht selten anhand anderer Informationen möglich (z.B. Zahlungsströme). Unter dem Strich ist die Aufklärungsquote bei Internetdelikten in Deutschland nach Inkrafttreten des verfassungswidrigen Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung gesunken, nicht gestiegen. Auch in anderen EU-Staaten haben Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung nicht zu einem Anstieg der Aufklärungsquote geführt.

10. Dr. Ostermann zitierte abschließend Wilhelm von Humboldt mit den Worten: “Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.”

Fakt ist: Was von Humboldt meint, erklärt er etwas weiter in dem Aufsatz, aus dem Dr. Ostermann zitiert:

»Sicher nenne ich die Bürger in einem Staat, wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte… nicht durch fremde Eingriffe gestört werden; Sicherheit [ist] folglich … Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit. … [U]m ihre Sicherheit zu erhalten, kann das nicht notwendig sein, was gerade die Freiheit und mithin auch die Sicherheit aufhebt.«

Quellen:
[1] Studie des Max-Planck-Institut (MPI) für ausländisches und internationales Strafrecht: https://www.mpg.de/5000721/vorratsdatenspeicherung.pdf
[2] Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/Sachstand_036-11.pdf
[3] Liste von Daten-Missbrauchsfällen: http://www.daten-speicherung.de/index.php/brief-an-spd-europaabgeordnete-zu[..]

1 Kommentar zu “Vorratsdatenspeicherung: 10 Mythen aus der Bundestagsdebatte und ihre Entlarvung

  1. Danke für diese Zusammenstellung. Insbesondere den letzten Punkt finde ich interessant: Ein Zitat genauso gebrauchen, wie es nicht gemeint ist. Das erfordert schon ein gewisses Maß an Dreistigkeit. Genauso wie die Behauptung mit den IP-Adressen. Wer’s glaubt wird selig.

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