Ein Artikel mit Informationen von Kristos Thingilouthis, dem Livestream von #dietotenkommen und fleißigen Aktionsteilnehmern auf Twitter erschienen bei der Flaschenpost.
Manchmal trifft die Kunst eine Gesellschaft im Herzen, ohne Vorwarnung. Mindestens 10 000 Menschen sind heute schweigend zum Bundestag geschritten und haben dort ein Gräberfeld auf der Reichstagswiese angelegt. Einfach so, mitten am Tag, an einem der am besten gesicherten Orte Deutschlands. Sie taten dies zum Gedenken für die mehr als 23 000 Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 ihre Überfahrt über das Mittelmeer mit dem Leben bezahlt haben.
Das legendäre Zentrum für politische Schönheit hatte gerufen, und die Menschen kamen: Jung und alt, bekannt und unbekannt, Mann, Frau, Eichhörnchen – alle waren sie da. Der Marsch begann in der Straße Unter den Linden, Ecke Charlottenstraße, und verlief in tiefem Schweigen.
Die Polizei war mit rund 200 Mann angerückt, blieb aber zunächst untätig, auch als die Aktivisten damit begannen, die Absperrungen einzureißen und die Gräber anzulegen. Da die Beamten die Aufgabe hatten, das Demonstrationsrecht einzuschränken, liegt die Vermutung nahe, dass sie mit der Masse der Demonstranten anfangs noch überfordert waren und deshalb nicht einschritten. Erst als die Einsatzkräfte Verstärkung bekamen, wurden sie Beobachtungen zufolge mutiger, und prompt gab es die üblichen Schikanen: Demonstranten wurden eingeschüchtert und verhaftet, Journalisten geschlagen und mindestens ein Kollege, Sofian Naceur, verhaftet.
Welche Werte sind in unserer politischen Klasse noch von Bedeutung, wenn die Unversehrtheit einer Wiese über der Trauer um tausende Tote steht? Und wie steht es um die Wahrung der Pressefreiheit: Wurde ein Journalist zurecht festgenommen – oder weil er, wie Teilnehmer der Demonstration berichten, die Verhaftung eines Demonstranten fotografierte?
Auch wenn manche Kollegen in der veröffentlichten Meinung die Aktion kritisch sehen und davon ausgehen, dass sie keinen interessiert: Aktuell (Stand: 21. Juni 2015, 20 Uhr) hat der Live-Stream mehr als 15 000 Klicks, der Hashtag #dietotenkommen ist weltweit auf Platz 2 in den Twitter-Trends und gut 10 000 Demonstranten haben an dem Marsch teilgenommen – das alles ist keine Kleinigkeit in einem Land, in dem die Wahlbeteiligung zurückgeht, sich die politische Macht auf wenige Schultern verteilt und jeder von Staats wegen bespitzelt werden soll.
Es ist Zeit, dass sich etwas ändert – es wird Zeit für eine menschliche Politik im Angesicht des Todes.
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